Dienstag, 21. Mai 2013

Sind Ärzte Marionetten der Pharmaindustrie?

Heidelberg. Wenn Mediziner mit Pharmaunternehmen zusammenarbeiten, entstehen oft massive Interessenkonflikte zwischen den beiden Parteien. Diese können die Unabhängigkeit und Objektivität von Ärzten und Wissenschaftlern beeinträchtigen, warnt der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz, Professor Klaus Lieb, in der aktuellen Ausgabe von "Spektrum der Wissenschaft".


Aus: Spektrum der Wissenschaft, Juni 2013

Zuwendungen seitens der Pharmaindustrie können etwa dazu führen, dass Ärzte bevorzugt deren Medikamente verschreiben oder in Vorträgen besonders positiv darstellen. Dabei führen vertrackte psychologische Mechanismen dazu, dass den Betroffenen meist gar nicht klar ist, dass sie sich nicht mehr neutral verhalten.

Entsprechend schlägt Klaus Lieb ein Bündel von Maßnahmen vor. Zunächst sei es notwendig, dass ein viel größeres Bewusstsein für das Problem entsteht. Verstärkte Transparenz und ein rigideres Regelwerk seitens der Institute oder unabhängiger Kommissionen zum Umgang mit Interessenkonflikten sollen dann garantieren, dass das Patientenwohl im Zentrum des ärztlichen Interesses steht.

Klaus Lieb ist Mitbegründer der Initiative MEZIS ("Mein Essen zahl ich selbst"), deren Mitglieder jegliche Zuwendung von Unternehmen ausschlagen, um sich dem Einfluss der Industrie zu entziehen. 2013 erhielt er vom Deutschen Hochschulverband für seinen Einsatz für integre Wissenschaft die Auszeichnung "Hochschullehrer des Jahres".
In den USA sind die Verflechtungen zwischen Medizinforschern und Medikamentenherstellern noch viel enger als hierzulande. Die Wissenschaftler erhalten routinemäßig Geld von Firmen, deren Produkte sie untersuchen, wie der New Yorker Journalismusprofessor Charles Seife in einem weiteren "Spektrum"-Artikel aufdeckt. Häufig sind die Beträge so hoch, dass der Begünstigte damit einem Kind das kostspielige Studium finanzieren kann. Die staatliche Gesundheitsbehörde NIH – die selbst Fördergelder in Milliardenhöhe verteilt – lässt sie gewähren. Denn auch ihre Mitarbeiter erhalten üppige Zuwendungen der Industrie.

Zum Hintergrund: Mediziner bekommen oft Zuwendungen aller Art von Pharmafirmen – vom Abendessen im Edelrestaurant anlässlich einer Medikamentvorstellung bis hin zu üppigen Honoraren für Vorträge und ähnliches. Dabei bleibt der Schein der Unabhängigkeit meist gewahrt. Der Bedachte darf sich etwa das Thema seines Vortrags frei aussuchen, das Unternehmen präsentiert dann halt seine Produkte im Anschluss an einem Stand. Die Ärzte sind in der Regel überzeugt, dadurch nicht in ihrem Verschreibungsverhalten beeinflusst zu werden. Fragt man sie jedoch, wie sie die gleiche Situation bei ihren Kollegen einschätzen, zeigt sich ein ganz anderes Bild: Hier bewerten sie die Gefahr einer Beeinflussung drei bis vier Mal höher. Offenbar haben sie also eine Art „blinden Fleck“, was ihre eigene Unabhängigkeit angeht.

Hier kommt ein psychologischer Mechanismus zum Tragen, die so genannte Reziprozitätsregel: Jeder Mensch hat eine starke unbewusste Tendenz, Gefälligkeiten zu erwidern, selbst wenn diese nicht erbeten oder erwünscht ist. Kleine Geschenke oder Einladungen zu Kongressen fördern demnach unbewusst die Neigung, sich dafür erkenntlich zu zeigen – und das kann dadurch geschehen, dass man das entsprechende Medikament öfter verschreibt.

Ein weiteres Risiko für die Unabhängigkeit von Medizinforschern sind Auftragsstudien für die Pharmaindustrie. Denn hier bestimmt der Auftraggeber das Ziel und das Studiendesign. Zudem liegt bei ihm die Datenhoheit. Die durchführenden Kliniken haben meist auch keine Publikationsrechte. Daher besteht die Gefahr, dass Daten unter den Tisch fallen, die der Auftragsfirma nicht gefallen. Ein prominenter Fall war das Schmerzmittel Vioxx, das zu vielen Todesfällen führe, die vermeidbar gewesen wären.

Auch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens führt zu Interessenkonflikten, wie sich kürzlich bei Transplantationsskandalen an mehreren deutschen Kliniken zeigte. Hier schaffen Bonusverträge falsche Anreize.