Scheinbar paradoxe Effekte einer neuen Wirkstoffklasse öffnen der Krebsbekämpfung neue Perspektiven
Aus: Spektrum der Wissenschaft, 8/2008 August 2008
Zu den jüngsten Waffen gegen Krebs gehören so genannte Angiogenese-Hemmer. Sie sollen das Wachstum von Blutgefäßen – die Angiogenese – unterbinden und den Tumor so aushungern. Paradoxerweise können sie eine Chemotherapie verbessern, obwohl die angestrebte schlechtere Blutversorgung auch den Einsatz herkömmlicher Medikamenten erschweren sollte.
Wie dieser widersinnig anmutende Effekt sich erklären und für neue Konzepte der Tumortherapie ausnutzen lässt, beschreibt der US-Forscher Rakesh K. Jain in der Augustausgabe von Spektrum der Wissenschaft.
Jain erforscht seit Jahren die Verhältnisse in Krebsgeweben. Dort bilden die Adern kein geordnetes Netzwerk, sondern ein Chaos aus beliebig verknüpften Gefäßen, mal eng, mal weit, teils unreif und in Sackgassen endend. Diese gestörte Gefäßarchitektur verhindert, wie er feststellte, dass Medikamente in ausreichender Menge in den Krebsherd gelangen. Sie führt überdies zu Sauerstoffmangel und saurem Milieu, das die Tumorzellen aggressiver und weniger angreifbarer macht, während es die Schlagkraft körpereigener Abwehrzellen reduziert.
Außerdem sind die Blutgefäße in den Tumoren quasi undicht, haben viel zu große Wandporen. Die austretende Flüssigkeit lässt das Tumorgewebe anschwellen. Bei Tumoren im Inneren des Schädels ist schon dieser Druckanstieg allein lebensbedrohlich.
Wie Jain und seine Kollegen mutmaßten und dann zunächst an Mäusen belegten, »normalisierten« Angiogenese-Hemmer anfänglich zu einem gewissen Grade das Adernetz innerhalb eines Tumors. Dadurch änderten sich die Bedingungen im Inneren des Krebsherds dramatisch. Nicht nur die Zugänglichkeit für Chemotherapeutika stieg an, die Sauerstoffversorgung verbesserte sich ebenfalls, wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit etlicher Krebsmedikamente und auch einer Strahlentherapie.
In einer ersten kleinen Studie an Patienten mit Glioblastom im Endstadium, einem sehr aggressiven Hirntumor, untersuchten Jain und seine Kollegen schließlich, wie es sich mit dem »Normalisierungsfenster« bei Menschen verhält. Eingesetzt wurde ein erst experimenteller Wirkstoff. Mit raffinierten bildgebenden Verfahren beobachteten die Forscher, dass die Anzeichen einer Gefäßnormalisierung in den ersten vier Wochen der Therapie besonders ausgeprägt waren. Vor allem ging die gefährliche Schwellung des Tumorgewebes rasch stark zurück.
Derzeit laufen Studien mit Patienten, die an verschiedenen Formen von Krebs in jeweils unterschiedlichen Stadien leiden. Jain und seine Kollegen testen dabei eine Reihe solcher Wirkstoffe kombiniert mit herkömmlichen Behandlungsmethoden, um die bestmögliche Strategie zu finden.
Was aber tun, damit sich das von einem Angiogenese-Hemmer geöffnete »Normalisierungsfenster« nicht so rasch wieder schließt? Das für die Zukunft propagierte Konzept von Jain lautet: viele verschiedene Wirkstoffe dieser Art entwickeln, um mit einem maßgeschneiderten Cocktail die außer Kontrolle geratenen Blutgefäße im individuellen Tumor möglichst lange zu zähmen – und so Immunzellen und Medikamenten den Zugang zu erleichtern.
Aus: Spektrum der Wissenschaft, 8/2008 August 2008